Presseerklärung
Gemeinsame
Presseerklärung der Landesflüchtlingsräte und des Flüchtlingsrates Berlin
29.03.2019
Zur
Kampagne von BMI, BAMF und CDU/CSU-Fraktion gegen die Flüchtlingsräte:
"Wir stellen uns gegen die Orbanisierung!"
Die Landesflüchtlingsräte weisen alle Versuche mit Nachdruck zurück, ihre
Menschenrechtsarbeit zu kriminalisieren. Die Arbeit der Flüchtlingsräte ruht in
allen Bundesländern auf einer breiten Unter-stützung durch Kirchen,
Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände, Kinder- und Jugendhilfe,
Arbeitsmarktakteure, Teilen der Politik und zahllosen Bürgerinitiativen. Die
von BAMF-Leiter Sommer und den Mitgliedern der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
Middelberg und Frei öffentlich erhobenen Unterstellungen angeblich
rechtswidriger Aktivitäten und den Versuch ihrer Kriminalisierung per Gesetz
weisen die Landesflüchtlingsräte entschieden zurück. Mit dieser Kampagne aus
Unionskreisen werden einer Orbanisierung der Bundesrepublik Vorschub geleistet
und bestehende Rückkehrrisiken in Afghanistan banalisiert.
Wir erinnern daran, dass Abschiebungstermine früher in der Regel von den
Behörden selbst mitgeteilt wurden. Begründet wurde dies mit der Notwendigkeit,
die Interessen der Betroffenen umfassend zu berücksichtigen und ihre Würde zu
wahren. Erst mit dem 2015 in Kraft getretenen sog. „Asylkompromiss 1“ ist den
zuständigen Behörden eine Ankündigung solcher Termine untersagt.
Nicht die Flüchtlingsräte, die ebenso wie die Seenotrettungsorganisationen 2015
gefeatured und gefeiert wurden, sondern die Politik der Bundesregierung und
ihrer Verwaltungen hat sich geändert. Die Politik hat sich entschieden, nicht
mehr Solidarität und Mitgefühl, sondern Feindseligkeit und Kriminalisierung
gegenüber Geflüchteten und ihren Unterstützer*innen zur Richtschnur ihres
Handelns zu erheben. Diese Politik – und nicht das Engagement der
Landesflüchtlingsräte – gefährdet den Rechtsstaat. Unter Führung von
Bundesinnenminister Horst Seehofer schreitet die Orbanisierung der deutschen
Politik voran.
Dazu passt, dass seit 2015 die Asylschutzquoten restriktiv nach unten
korrigiert wurden. Lag diese für afghanische Flüchtlinge 2015 noch bei
bereinigt 80%, so ist sie bis 2018 auf gerade einmal 50% abgesunken, obwohl der
Krieg in Afghanistan 2018 mehr Tote einforderte, als in Jemen oder
Syrien. Asylanträge mit Verweis auf angeblich sichere Gebiete abzulehnen und
Abschiebungen nach Afghanistan zu forcieren ist zynisch. Den UNHCR Eligibility
Guidelines zufolge kommt Kabul beispielsweise generell als Schutzort für
Betroffene nicht mehr in Betracht. Trotzdem will das BMI Abschiebungen nach
Afghanistan ausweiten.
Vor diesem Hintergrund ist es kaum verwunderlich, dass ca. die Hälfte der
negativen BAMF-Entscheidungen zu afghanischen Asylgesuchen von den
Verwaltungsgerichten kassiert werden . „Anstatt gegen Flüchtlingsräte zu
hetzen, sollte BAMF-Leiter Sommer dafür sorgen, dass seine Behörde wieder
seriös arbeitet, Schutzsuchende zu ihrem Recht kommen und die Verwaltungsgerichte
entlastet werden." fordert Nora Brezger von Flüchtlingsrat Berlin.
Vor Abschiebungen zu warnen bedeutet, dass einige wenige Geflüchtete noch die
Gelegenheit wahr-nehmen können, ihre Rechte vor Behörden und Gerichten
einzufordern. Das ist unabdingbar. Denn Familien auseinanderreißen, Schwangere
und Kranke abschieben, Menschen aus der Ausbildung zu reißen - das sind keine
Einzelfälle, das dokumentieren Landesflüchtlingsräte inzwischen als
strukturelles, menschenrechtliches Problem.
Beratung durch die Flüchtlingsräte erfüllt eine wichtige Rolle im Rechtsstaat,
indem Asylsuchende in jedem Stadium ihres Verfahrens über ihre Rechte und
Pflichten aufgeklärt werden, während der Staat bei der praktischen
Verwirklichung des effektiven Rechtsschutzes, eines Grundrechtes, häufig
versagt oder sich unwillig zeigt. Mit dem Bekanntwerden von
Abschiebungsterminen wird möglicherweise Betroffenen bewusst, dass sie eine
letzte Chance haben zu prüfen, ob Rechtsmittel einzulegen sind.
Der Angriff aus der Union zielt auf die gesamte Beratungs- und
Unterstützungsstruktur in Deutschland. Angesichts des o.g. bundesbehördlichen
Versagens ist dieses zivilgesellschaftliche Engagement oft lebenserhaltend. Es
würden sonst Kinder, Jugendliche und/oder Erwachsene abgeschoben, die Schutz
brauchen und aufgrund von Fehlentscheidungen der Behörden dann in
Abschiebeflieger gerieten.
Ein demokratischer Rechtsstaat muss es nicht nur tolerieren, sondern sogar
fördern, dass seine Zivilgesellschaft in Form von Beratungsstellen,
Wohlfahrtsverbänden, Kirchen und Flüchtlingsinitiativen helfen, falsche
Behördenentscheidungen zu korrigieren und Menschen bei der Wahrnehmung ihrer
elementaren Rechte unterstützen.
"Wir leisten humanitäre Arbeit im Einzelfall und organisieren den Protest
gegen den Abschiebefuror der Behörden." so Nora Brezger, Sprecherin des
Berlin Flüchtlingsrates. "Es ist ein Mythos, dass die Abschiebemaschinerie
durch E-Mails, Posts, Tweets und das Benennen konkreter Termine ins Wanken
gerät. Es geht uns um das demokratische Recht, in der Gesellschaft ein
kritisches Bewusstsein für potenzielle Lebensgefährdungen von hierzulande
Schutz Suchenden zu fördern.“ Deswegen arbeiten die Landesflüchtlingsräte eng
vernetzt mit Bündnissen wie z.B. PRO ASYL, der Seebrücke, #unteilbar und We'll
Come United.
Hintergrund:
§ 95 AufenthG-E: Strafvorschriften
In dem Referentenentwurf für das sogenannte „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“
werden zwei neue Straftatbestände vorgeschlagen, die jeweils mit bis zu drei
Jahren Haft oder Geldstrafe bestraft werden können.
Der erste neue Straftatbestand stellt es unter Strafe, die Vollziehung einer
bestehenden Ausreisepflicht zu beeinträchtigen, indem man über geplante
Maßnahmen zur Identitätsfeststellung ausreisepflichtiger Ausländer mit dem Ziel
einer Behinderung derselben informiert (§ 95 Abs. 2 Nr. 3a AufenthG-E). Wie die
Gesetzesbegründung erkennen lässt, wird hier den Beratungsstellen unterstellt,
dass sie Tipps zur Verschleierung der Identität geben würden. Unabhängige
Beratungsstellen erfüllen eine wichtige Funktion im Rechtsstaat, indem sie
schutzsuchende Menschen über ihre Rechte und Pflichten aufklären. Insbesondere
für Menschen aus anderen Ländern und Rechtssystemen, die dazu nicht die
deutsche Sprache sprechen, ist dies sehr wichtig. Das zu Tage kommende
Misstrauen des Bundesinnenministeriums gegenüber diesen Beratungsstellen ist
äußerst problematisch. Die Formulierung ist zudem so unkonkret, dass selbst
BeraterInnen, die ihre MandantInnen beraten und unter Umständen weitere
rechtliche Schritte empfehlen, unter diesen Straftatbestand fallen könnten.
Zweitens soll die Veröffentlichung von Abschiebungsterminen unter Strafe
gestellt werden (§ 95 Abs. 2 Nr. 3b AufenthG-E). Wie die Gesetzesbegründung
präzisiert, bezieht sich dies zum Beispiel auf die Verbreitung der Information
über Newsletter oder in den sozialen Medien. Die Veröffentlichung von
Abschiebungsterminen dient verschiedenen legitimen Interessen. Zum einen bietet
es potentiell betroffenen Menschen die Möglichkeit, sich rechtlichen Rat zu
holen. Zum anderen sind Abschiebungen, insbesondere jene nach Afghanistan, Teil
einer öffentlichen Debatte, die insbesondere durch die Veröffentlichungen
angeregt wird.
Das Recht, Informationen zu erhalten und zu verbreiten, sowie die
Pressefreiheit sind als Teil des Rechts auf Meinungsfreiheit durch Art. 5 Abs.
1 Grundgesetz, Art. 10 Abs. 1 EMRK und Art. 19 Abs. 2 IPBPR geschützt. Mit
diesen Rechten und dahinterstehenden Interessen setzt sich das
Bundesinnenministerium gar nicht erst auseinander. Die vorgesehenen
Einschränkungen dieser Rechte wird mit der „Bewährung des Rechtsstaats“ und des
„besonderen Unrechtsgehalts“ des unter Strafe gestellten Verhaltens begründet,
außerdem könnte mit der Vorschrift die Weitergabe von vertraulichen
Informationen verhindert werden – warum es sich dabei tatsächlich um
vertrauliche Informationen handeln soll, wird nicht erläutert. Erforderlich
wäre darüber hinaus schon nach ständiger Rechtspre-chung des EGMR eine
Abwägung, bei der ein öffentliches Interesse an der Information, die vorhanden
ist, ein entscheidendes Argument ist. Der Spielraum von Staaten zur
Beschränkung der Informationsfreiheit ist besonders eingegrenzt, wenn es um die
Pressefreiheit geht, da der Presse eine besonders wichtige Rolle in einer
Demokratie zukommt. Angesichts des hohen öffentlichen Interesses z.B. an
Abschiebungen nach Afghanistan und der Rolle der Medien bei der
Veröffentlichung von Terminen von Abschiebungsflügen ist es nicht
verhältnismäßig, eine Veröffentlichung dieser Information unter Strafe zu
stellen. Auch würde es negative Auswirkungen auf das Demonstrationsrecht haben,
da für einen Aufruf zur Demonstration gegen einen Abschiebeflug eben auch der
Termin bekannt gegeben werden muss.
Die Vorschläge sind nicht nur als menschenrechtswidrig sondern auch politisch
abzulehnen, da sie eindeutig das Ziel haben, eine engagierte Zivilgesellschaft
zu kriminalisieren. Dies ist ein besorgniserregender internationaler Trend, der
auch im jährlichen Bericht des UN-Sonderberichterstatters zu MenschenrechtsverteidigerInnen
2018 aufgegriffen wurde. Wie der Berichterstatter feststellt, werden
UnterstützerInnen von geflüchteten Menschen zu-nehmend kriminalisiert, was auch
einen „chilling effect“ haben kann, d.h. eine Abschreckungswirkung, die dazu
führt, dass sich weniger Menschen in dem Bereich engagieren. Dies lässt
sich besonders auf die erste neue Strafvorschrift beziehen, da diese Regelung
Menschen davon abhalten könnte, überhaupt erst mit einer Beratungstätigkeit
anzufangen. Auch die Kriminalisierung von Whistleblowern problematisiert der
Berichterstatter und empfiehlt, entsprechend die Meinungs- und
Informationsfreiheit nicht einzuschränken.
Die vorgeschlagenen Strafvorschriften sind verfassungs- und
menschenrechtswidrig und sind ersatzlos zu streichen.